(Stuttgart) Nach einer Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts rechtfertigt die Nutzung der Zutrittskarte eines erkrankten Arbeitskollegen, der zugleich der Lebensgefährte der Mitarbeiterin ist, zur Erlangung eines vom Arbeitgeber bezuschussten Kantinenmittagessens ohne vorherige Abmahnung nicht den Ausspruch einer außerordentlichen oder hilfsweisen ordentlichen Kündigung.

Darauf verweist der Stuttgarter Fachanwalt für Arbeitsrecht Michael Henn, Präsident des VdAA – Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. mit Sitz in Stuttgart unter Hinweis auf ein am 11.05.2009 veröffentlichtes Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 17. September 2008 – 8 Sa 548/08.

Auslöser des Rechtsstreits war der Umstand, dass ein Arbeitgeber den Mitarbeitern angeboten hat, nach vorheriger Anmeldung gegen eine Monatspauschale in Höhe von ca. € 50,00 an der Mittagsverpflegung in der Kantine teilzunehmen. Die von ihm ausgegebenen Zutrittskarten der Beschäftigten werden für den Fall, dass diese sich zur Teilnahme an der Kantinenverpflegung entschließen, für die tägliche Kantinennutzung freigeschaltet. Bei Teilnahme an der Kantinenverpflegung erstattet der Arbeitgeber dem Kantinenbetreiber jeweils ca. € 3,00. Das Mittagessen erhalten die Teilnehmer, indem sie ihre Zutrittskarte an die Kartenleser der jeweiligen Essensstationen halten. Gehen die Teilnahme im Einzelfall nicht zum Mittagessen, erhalten sie keine finanzielle Erstattung. Der Kantinenbetreiber hat für seine Kosten einkalkuliert, dass jeden Tag von den Pauschalnutzern die Mittagsverpflegung in Anspruch genommen wird. Für Mitarbeiter, die nicht zur pauschalen Kantinennutzung angemeldet sind, besteht die Möglichkeit, Geldbeträge auf die Zutrittskarte zu laden und in der Kantine ein Gästeessen zu einem Preis von mindestens € 10,00 einzunehmen.

Eine Mitarbeiterin, die seit 1999 im Betrieb beschäftigt war, hatte bis Januar 2003 an der Mittagsverpflegung teilgenommen und sich danach nicht wieder angemeldet. Ihr Lebensgefährte war angemeldet und entrichtete die Pauschalzahlung. Während er krankheitsbedingt zu Hause bleiben musste, hatte die seine Lebensgefährtin an sieben Arbeitstagen unter Nutzung von seiner freigeschalteten Zutrittskarte an der betrieblichen Mittagsverpflegung teilgenommen. Nachdem der Arbeitgeber hiervon Kenntnis erlangt hatte, kündigte er das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise fristgemäß. Er sah in dem Verhalten der Mitarbeiterin den Straftatbestand der Erschleichung einer Leistung verwirklicht.

Das Arbeitsgericht hat der von der Mitarbeiterin eingereichten Kündigungsschutzklage stattgegeben.

Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Arbeitgebers hatte keinen Erfolg, beton Henn.

Auch nach Auffassung des Berufungsgerichts war im Hinblick auf das der Mitarbeiterin vorzuwerfende Fehlverhalten eine erfolglose Abmahnung erforderlich. Es war entschuldbar, wenn sie geglaubt hat, unter Nutzung von dessen Zutrittskarte – ausschließlich – zu diesem Zweck die Mittagsverpflegung anstelle ihres erkrankten Lebensgefährten in Anspruch nehmen zu dürfen. Sie musste auch nicht annehmen, dass dadurch irgendjemandem ein Schaden entstehen würde. Den bekannt gegebenen Bedingungen zur Teilnahme an der betrieblichen Mittagsverpflegung, auf die sich der Arbeitgeber berufen hat, lasse sich dies jedenfalls nicht klar entnehmen.

Aus den Nutzungsbedingungen gehe zwar unmissverständlich und mit kaum zu überbietender Deutlichkeit hervor, wie mit dem täglichen tatsächlichen Essensbezug zu verfahren sei. Nicht zu ersehen sei aber, dass Abwesenheitszeiten und Nichtinanspruchnahme der Mittagsverpflegung in die Essenspreise einkalkuliert seien und die Nutzung der Freischaltung eines angemeldeten Kollegen verboten sei. Letzteres mag man sich zwar bei näherer Überlegung und Befassen mit der Thematik denken können. Es sei aber keineswegs offensichtlich. Damit habe es sich bei dem Fehlverhalten der Mitarbeiterin auf jeden Fall nicht um eine solche Pflichtverletzung gehandelt, bei der eine Hinnahme durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen und mithin eine Abmahnung entbehrlich gewesen sei.

Soweit der Arbeitgeber gemeint hat, die Mitarbeiterin habe strafbare Handlungen begangen, fehlte es jedenfalls an der subjektiven Tatseite. Es sei nicht ersichtlich, dass sie vorsätzlich einen Irrtum erregen wollte und den Vorsatz hatte, das Vermögen des Arbeitgebers zu schädigen. Ein solcher Vorsatz wäre nur möglich gewesen, wenn sie den Bewirtschaftungsvertrag mit dem Kantinenbetreiber gekannt und diesem weiterhin hätte entnehmen können, dass der Essenszuschuss abhängig von der jeweiligen Zahl der Nutzer der Mittagsverpflegung gewesen sei.

Auch die Strafvorschrift des § 281 StGB sah das Berufungsgericht nicht als verwirklicht an. Die Zutrittskarte sei zwar ein Ausweispapier. Die Mitarbeiterin habe jedoch die Zutrittskarte ihres Lebensgefährten nicht – wie die Strafvorschrift verlange – als Ausweispapier verwendet und nicht zur Identitätstäuschung eingesetzt. Sie habe lediglich die Freischaltung auf der Zutrittskarte am Kartenleser der Essensstation verwendet. Selbst wenn man annehme, dass eine Identitätstäuschung dadurch gegeben sei, dass der Name später ausgelesen wurde und ausgelesen werden konnte, fehle es aber wiederum an subjektiven Tatbestand.

Im Übrigen erachtete das Berufungsgericht eine Kündigung, sei sie außerordentlich oder ordentlich, im Hinblick auf die Beschäftigungsdauer und das Gewicht der vorgeworfenen Pflichtverletzung für unverhältnismäßig.

Henn empfahl, das Urteil zu beachten und in Zweifelsfällen rechtlichen Rat einzuholen, wobei er u. a. dazu auch auf den VdAA Verband deutscher ArbeitsrechtsAnwälte e. V. – www.vdaa.de – verwies.   

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