(Stuttgart)  Ein Arbeit­nehmer, dessen Arbeitsver­hält­nis im Gel­tungs­bere­ich eines nach § 5 TVG all­ge­mein­verbindlichen oder in sein­er Wirkung nach § 1 Abs. 3a AEntG 2007 (jet­zt § 7 AEntG 2009) auf bish­er nicht an ihn gebun­dene Arbeitsver­hält­nisse erstreck­ten Tar­ifver­trages liegt, hat gegen seinen Arbeit­ge­ber einen Anspruch auf den dort geregel­ten Mindestlohn.

Für die Frage, ob und inwieweit der Arbeit­ge­ber diesen Anspruch durch ander­weit­ige Leis­tun­gen erfüllt hat, kommt es darauf an, welchen Zweck die anderen Leis­tun­gen haben. Sie sind dann als funk­tion­al gle­ich­w­er­tig zum Min­dest­lohn anzuse­hen, wenn sie dazu dienen, die nach dem all­ge­mein­verbindlichen Tar­ifver­trag voraus­ge­set­zte „Nor­malleis­tung“ abzugel­ten, nicht jedoch, wenn sie über die vom Tar­ifver­trag voraus­ge­set­zte Verpflich­tung hin­aus geleis­tete Arbeitsstun­den oder unter demge­genüber beson­deren Erschw­ernissen geleis­tete Arbeit vergüten sollen.

Der Vierte Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts (BAG) hat­te sich in zwei Rechtsstre­it­igkeit­en mit hier­mit im Zusam­men­hang ste­hen­den Einzel­fra­gen zu befassen, so der Stuttgarter Fachan­walt für Arbeit­srecht Michael Henn, Präsi­dent des VDAA — Ver­band deutsch­er Arbeit­srecht­sAn­wälte e. V. mit Sitz in Stuttgart, unter Hin­weis auf die Mit­teilung des BAG vom 18.04.2012 zu seinem Urteil und Beschluss vom sel­ben Tage, Az.: 4 AZR 139/10 und 4 AZR 168/10. 

Die Arbeitsver­hält­nisse der bei­den Kläger unter­la­gen im Stre­itzeitraum vom 1. Juli 2007 bis zum 30. Juni 2008 den all­ge­mein­verbindlichen Tar­ifverträ­gen des Gebäud­ere­iniger­handw­erks und der am 1. April 2008 in Kraft getrete­nen Verord­nung über zwin­gende Min­destar­beits­be­din­gun­gen im Gebäud­ere­iniger­handw­erk nach § 1 Abs. 3a AEntG 2007. Die beklagte Arbeit­ge­berin gehört zum Deutsche-Bahn-Konz­ern und vergütet die bei­den Kläger nach einem konz­erneige­nen Tar­ifver­tragssys­tem. Die im Stre­itzeitraum danach gezahlten Grund­stun­den­löhne lagen unter­halb der jew­eili­gen Min­destlöhne der Gebäud­ere­iniger­tar­ifverträge. Die Beklagte zahlte aber neben den Stun­den­löh­nen ver­schiedene Zuschläge, Ein­malzahlun­gen, Urlaub­s­gelder und ver­mö­genswirk­same Leis­tun­gen, die sie — ua. unter Beru­fung auf die Recht­sprechung des Europäis­chen Gericht­shofes (EuGH) — sämtlich auf die von den Klägern gel­tend gemacht­en Min­destlöhne nach den Gebäud­ere­iniger­tar­ifverträ­gen angerech­net hat. Die Kläger haben die Auf­fas­sung vertreten, diese weit­eren Leis­tun­gen kön­nten nicht auf die Min­destlöhne angerech­net wer­den, so dass die Arbeit­ge­berin zur Zahlung der Dif­ferenz weit­er­hin verpflichtet sei.

Der Sen­at hat in der Sache 4 AZR 139/10 der Arbeit­ge­berin Recht gegeben, so Henn, weil die von der Arbeit­ge­berin neben dem Tar­if­s­tun­den­lohn für jede Arbeitsstunde gezahlte „Verkehrsmit­telzu­lage“, unter deren Ein­schluss der Kläger mehr als den Min­dest­lohn erhielt, auf den geschulde­ten Min­dest­lohn anzurech­nen ist. Eine solche Zulage war für die von dem Arbeit­nehmer ver­richtete Arbeit nach den Gebäud­ere­iniger­tar­ifverträ­gen nicht vorge­se­hen, die aber ausweis­lich ihres Gel­tungs­bere­ichs den Min­dest­lohn auch für Verkehrsmit­tel­reini­gung fes­tlegt hatten.

In dem Rechtsstre­it 4 AZR 168/10 war dem Kläger die Verkehrsmit­telzu­lage nicht gezahlt wor­den. Den danach verbleiben­den Vergü­tungs­d­if­feren­zanspruch des Klägers hat die Beklagte nach der vor­läu­fi­gen Ein­schätzung des Sen­ats auf der Grund­lage des nationalen (Tarifrechts-)Verständnisses zumin­d­est nicht voll­ständig erfüllt. Jeden­falls die von der Beklagten erbracht­en nach den Gebäud­ere­iniger­tar­ifverträ­gen nicht vorge­se­henen ver­mö­genswirk­samen Leis­tun­gen sind hier­nach nicht als Erfül­lung des Min­dest­lohns anzuse­hen. Sie sind nicht mit dem Grund­stun­den­lohn der Gebäud­ere­iniger-Lohn­tar­ifverträge funk­tion­al gle­ich­w­er­tig, son­dern erfüllen unab­hängig von der Art und Ent­loh­nung der zu leis­ten­den Arbeit die Funk­tion ein­er Ver­mö­gens­bil­dung in Arbeit­nehmer­hand und ste­hen überdies dem Arbeit­nehmer nicht zusam­men mit dem laufend­en Ent­gelt zur Ver­fü­gung. Diese Ausle­gung des Sen­ats beruht allein auf der Grund­lage eines inner­staatlichen Sachver­halts ohne gren­züber­schre­i­t­en­den Bezug. Die hier ein­schlägi­gen Rechts­grund­la­gen, ins­beson­dere § 1 Abs. 3a AEntG 2007 (jet­zt § 7 AEntG 2009) müssen nach Ein­schätzung des Sen­ats jedoch bei inner­staatlichen und gren­züber­schre­i­t­en­den Sachver­hal­ten in gle­ich­er Weise aus­gelegt wer­den. Da für einen gren­züber­schre­i­t­en­den Sachver­halt die Recht­sprechung des EuGH let­ztverbindlich ist, hat der Sen­at dem Gericht­shof im Wege des Vor­abentschei­dungsver­fahrens zwei Rechts­fra­gen zur Entschei­dung vorgelegt und den Rechtsstre­it ausgesetzt:

  1. Ist der Begriff ‚Min­dest­lohn­sätze’ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlin­ie 96/71/EG dahin auszule­gen, dass er die Gegen­leis­tung des Arbeit­ge­bers für diejenige Arbeit­sleis­tung des Arbeit­nehmers beze­ich­net, die nach der in Art. 3 Abs. 1 Ein­gangssatz der Richtlin­ie genan­nten Rechts- oder Ver­wal­tungsvorschrift oder dem all­ge­mein­verbindlichen Tar­ifver­trag allein und voll­ständig mit dem tar­i­flichen Min­dest­lohn abge­golten wer­den soll („Nor­malleis­tung“), und deshalb nur Arbeit­ge­ber­leis­tun­gen auf die Verpflich­tung zur Zahlung des Min­dest­lohn­satzes angerech­net wer­den kön­nen, die diese Nor­malleis­tung ent­gel­ten und spätestens zu dem Fäl­ligkeit­ster­min für den jew­eili­gen Lohn­zahlungszeitraum dem Arbeit­nehmer zur Ver­fü­gung ste­hen müssen?
  2. Ist der Begriff ‚Min­dest­lohn­sätze’ in Art. 3 Abs. 1 Buchst. c) der Richtlin­ie 96/71/EG dahin auszule­gen, dass er nationalen Bes­tim­mungen oder Gepflo­gen­heit­en ent­ge­gen­ste­ht, nach denen Leis­tun­gen eines Arbeit­ge­bers nicht als Bestandteil des Min­dest­lohns anzuse­hen und damit nicht auf die Erfül­lung des Min­dest­lohnanspruchs anzurech­nen sind, wenn der Arbeit­ge­ber diese Leis­tun­gen auf­grund ein­er tar­ifver­traglichen Verpflich­tung erbringt, die nach dem Willen der Tar­ifver­tragsparteien und des nationalen Geset­zge­bers dazu bes­timmt sind, der Bil­dung von Ver­mö­gen in Arbeit­nehmer­hand zu dienen, und zu diesem Zweck die monatlichen Leis­tun­gen vom Arbeit­ge­ber für den Arbeit­nehmer langfristig angelegt wer­den, zum Beispiel als Spar­beitrag, als Beitrag zum Bau oder Erwerb eines Wohnge­bäudes oder als Beitrag zu ein­er Kap­i­tallebensver­sicherung, und mit staatlichen Zuschüssen und Steuervergün­s­ti­gun­gen gefördert wer­den, und der Arbeit­nehmer erst nach ein­er mehrjähri­gen Frist über diese Beiträge ver­fü­gen kann, und die Höhe der Beiträge als monatlich­er Fes­t­be­trag allein von der vere­in­barten Arbeit­szeit, nicht jedoch von der Arbeitsvergü­tung abhängt („ver­mö­genswirk­same Leis­tun­gen“)?

Henn emp­fahl, die Entschei­dung und den Fort­gang zu beacht­en und in Zweifels­fällen rechtlichen Rat einzu­holen, wobei er u. a. dazu auch auf den VDAA Ver­band deutsch­er Arbeit­srecht­sAn­wälte e. V. – www.vdaa.de – verwies.

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Michael Henn
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