Bun­de­sar­beits­gericht, Beschluss vom 02.12.2021, AZ 8 AZR 370/20 (A)

Aus­gabe: 11–2021

Die Parteien stre­it­en in der Revi­sion über einen Anspruch der Klägerin auf eine Gutschrift auf ihrem Arbeit­szeitkon­to sowie über die Zahlung ein­er Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG**.

Der Beklagte ist ein bun­desweit tätiger ambu­lanter Dial­y­sean­bi­eter. Die Klägerin ist für den Beklagten in B. als Pflegekraft in Teilzeit mit ein­er Arbeit­szeit von 40 Prozent der regelmäßi­gen wöchentlichen Arbeit­szeit ein­er Vol­lzeitkraft beschäftigt.

Nach § 10 Zif­fer 7 Satz 2 des arbeitsver­traglich in Bezug genomme­nen, zwis­chen der Gew­erkschaft ver.di und dem Beklagten geschlosse­nen Man­teltar­ifver­trags (MTV) sind zuschlagspflichtig mit einem Zuschlag von 30 Prozent Über­stun­den, die über die kalen­der­monatliche Arbeit­szeit eines vol­lzeitbeschäftigten Arbeit­nehmers hin­aus geleis­tet wer­den und im jew­eili­gen Kalen­der­monat der Arbeit­sleis­tung nicht durch Freizeit­gewährung aus­geglichen wer­den kön­nen. Alter­na­tiv zu ein­er Auszahlung des Zuschlags ist eine Hon­orierung durch entsprechende Zeitgutschriften im Arbeit­szeitkon­to vorgesehen.

Das für die Klägerin geführte Arbeit­szeitkon­to wies zum Ende des Monats März 2018 ein Arbeit­szeitguthaben von 129 Stun­den und 24 Minuten aus. Hier­bei han­delt es sich um die von der Klägerin über die arbeitsver­traglich vere­in­barte Arbeit­szeit hin­aus geleis­teten Stun­den. Der Beklagte hat der Klägerin für diese Stun­den wed­er Über­stun­den­zuschläge gezahlt, noch hat er im Arbeit­szeitkon­to der Klägerin eine den Zuschlä­gen entsprechende Zeitgutschrift vorgenommen.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin den Beklagten ua. auf eine den Zuschlä­gen entsprechende Zeitgutschrift in ihrem Arbeit­szeitkon­to von 38 Stun­den und 49 Minuten sowie auf Zahlung ein­er Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG in Anspruch genom­men. Sie hat die Auf­fas­sung vertreten, sie werde durch die Anwen­dung der tar­ifver­traglichen Regelung in § 10 Zif­fer 7 Satz 2 MTV unzuläs­sig als Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vol­lzeitbeschäftigten benachteiligt. Zugle­ich werde sie als Teilzeitbeschäftigte mit­tel­bar wegen des Geschlechts benachteiligt, denn der Beklagte beschäftige über­wiegend Frauen in Teilzeit.
Das Arbeits­gericht hat die Klage abgewiesen. Das Lan­desar­beits­gericht hat das arbeits­gerichtliche Urteil auf die Beru­fung der Klägerin teil­weise abgeän­dert und den Beklagten verurteilt, dem Arbeit­szeitkon­to der Klägerin die geforderten Stun­den gutzuschreiben. Die weit­erge­hende Beru­fung der Klägerin hat es zurück­gewiesen. Mit ihrer Revi­sion ver­fol­gt die Klägerin ihr Begehren auf Zahlung ein­er Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG weit­er. Der Beklagte begehrt die Zurück­weisung der Revi­sion und im Wege der Anschlussre­vi­sion, die Klage ins­ge­samt abzuweisen.

Der Achte Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts ersucht den Gericht­shof der Europäis­chen Union, ua.* die fol­gen­den Fra­gen nach der Ausle­gung von Union­srecht zu beant­worten, und zwar:

Sind Art. 157 AEUV*** sowie Art. 2 Abs. 1 Buch­stabe b**** und Art. 4 Satz 1***** der Richtlin­ie 2006/54/EG so auszule­gen, dass eine nationale tar­ifver­tragliche Regelung, nach der die Zahlung von Über­stun­den­zuschlä­gen nur für Arbeitsstun­den vorge­se­hen ist, die über die regelmäßige Arbeit­szeit eines vol­lzeitbeschäftigten Arbeit­nehmers hin­aus gear­beit­et wer­den, eine Ungle­ich­be­hand­lung von Vol­lzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten enthält?

Ist Para­graph 4 Nr. 1 der Rah­men­vere­in­barung über Teilzeitar­beit im Anhang der Richtlin­ie 97/81/EG****** so auszule­gen, dass eine nationale tar­ifver­tragliche Regelung, nach der die Zahlung von Über­stun­den­zuschlä­gen nur für Arbeitsstun­den vorge­se­hen ist, die über die regelmäßige Arbeit­szeit eines vol­lzeitbeschäftigten Arbeit­nehmers hin­aus gear­beit­et wer­den, eine Ungle­ich­be­hand­lung von Vol­lzeitbeschäftigten und Teilzeitbeschäftigten enthält?

Bun­de­sar­beits­gericht, Beschluss vom 28. Okto­ber 2021 – 8 AZR 370/20 (A) –
Vorin­stanz: Hes­sis­ches Lan­desar­beits­gericht, Urteil vom 19. Dezem­ber 2019 – 5 Sa 436/19 –

*Der genaue Wort­laut der für den Fall, dass der Gericht­shof der Europäis­chen Union die zuvor aufge­führten Fra­gen bejaht, darüber hin­aus gestell­ten Fra­gen kann auf der Seite www.bundesarbeitsgericht.de unter dem Menüpunkt „Sitzungsergeb­nisse“ einge­se­hen werden.
**§ 15 Abs. 2 AGG
Wegen eines Schadens, der nicht Ver­mö­genss­chaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädi­gung in Geld ver­lan­gen. Die Entschädi­gung darf bei ein­er Nichte­in­stel­lung drei Monats­ge­häl­ter nicht über­steigen, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benachteili­gungs­freier Auswahl nicht eingestellt wor­den wäre.
***Art. 157 Abs. 1 AEUV
Jed­er Mit­glied­staat stellt die Anwen­dung des Grund­satzes des gle­ichen Ent­gelts für Män­ner und Frauen bei gle­ich­er oder gle­ich­w­er­tiger Arbeit sicher.
****Art. 2 Abs. 1 Buch­stabe b der Richtlin­ie 2006/54/EG
Im Sinne dieser Richtlin­ie beze­ich­net der Aus­druck „mit­tel­bare Diskri­m­inierung“ eine Sit­u­a­tion, in der dem Anschein nach neu­trale Vorschriften, Kri­te­rien oder Ver­fahren Per­so­n­en des einen Geschlechts in beson­der­er Weise gegenüber Per­so­n­en des anderen Geschlechts benachteili­gen kön­nen, es sei denn, die betr­e­f­fend­en Vorschriften, Kri­te­rien oder Ver­fahren sind durch ein recht­mäßiges Ziel sach­lich gerecht­fer­tigt und die Mit­tel sind zur Erre­ichung dieses Ziels angemessen und erforderlich.
*****Art. 4 Satz 1 der Richtlin­ie 2006/54/EG
Bei gle­ich­er Arbeit oder bei ein­er Arbeit, die als gle­ich­w­er­tig anerkan­nt wird, wird mit­tel­bare und unmit­tel­bare Diskri­m­inierung auf­grund des Geschlechts in Bezug auf sämtliche Ent­geltbe­standteile und ‑bedin­gun­gen beseitigt.
******Para­graph 4 Nr. 1 der Rah­men­vere­in­barung über Teilzeitar­beit im Anhang der Richtlin­ie 97/81/EG
Teilzeitbeschäftigte dür­fen in ihren Beschäf­ti­gungs­be­din­gun­gen nur deswe­gen, weil sie teilzeitbeschäftigt sind, gegenüber ver­gle­ich­baren Vol­lzeitbeschäftigten nicht schlechter behan­delt wer­den, es sei denn, die unter­schiedliche Behand­lung ist aus objek­tiv­en Grün­den gerechtfertigt.

Weit­ere Infor­ma­tio­nen: https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/disk…