Bun­de­sar­beits­gericht, Beschluss vom 30.06.2021, AZ 5 AZR 505/20

Aus­gabe: 06–2021

Nach Deutsch­land in einen Pri­vathaushalt entsandte aus­ländis­che Betreu­ungskräfte haben Anspruch auf den geset­zlichen Min­dest­lohn für geleis­tete Arbeitsstun­den. Dazu gehört auch Bere­itschafts­di­enst. Ein solch­er kann darin beste­hen, dass die Betreu­ungskraft im Haushalt der zu betreuen­den Per­son wohnen muss und grund­sät­zlich verpflichtet ist, zu allen Tag- und Nacht­stun­den bei Bedarf Arbeit zu leisten.

Die Klägerin ist bul­gar­ische Staat­sange­hörige mit Wohn­sitz in Bul­gar­ien. Sie war seit April 2015 bei der Beklagten, einem Unternehmen mit Sitz in Bul­gar­ien, als Sozialas­sis­tentin beschäftigt. In dem in bul­gar­isch­er Sprache abge­fassten Arbeitsver­trag ist eine Arbeit­szeit von 30 Stun­den wöchentlich vere­in­bart, wobei Sam­stag und Son­ntag arbeits­frei sein soll­ten. Die Klägerin wurde nach Berlin entsandt und arbeit­ete gegen eine Net­tovergü­tung von 950,00 Euro monatlich im Haushalt der über 90-jähri­gen zu betreuen­den Per­son, bei der sie auch ein Zim­mer bewohnte. Ihre Auf­gaben umfassten neben Haushalt­stätigkeit­en (wie Einkaufen, Kochen, Putzen etc.) eine „Grund­ver­sorgung“ (wie Hil­fe bei der Hygiene, beim Anklei­den etc.) und soziale Auf­gaben (zB Gesellschaft leis­ten, Ansprache, gemein­same Inter­essen­ver­fol­gung). Der Ein­satz der Klägerin erfol­gte auf der Grund­lage eines Dien­stleis­tungsver­trags, in dem sich die Beklagte gegenüber der zu betreuen­den Per­son verpflichtete, die aufge­führten Betreu­ungsleis­tun­gen durch ihre Mitar­beit­er in deren Haushalt zu erbringen.

Mit ihrer im August 2018 erhobe­nen Klage hat die Klägerin unter Beru­fung auf das Min­dest­lohnge­setz (MiLoG) weit­ere Vergü­tung ver­langt. Sie hat gel­tend gemacht, bei der Betreu­ung nicht nur 30 Wochen­stun­den, son­dern rund um die Uhr gear­beit­et zu haben oder in Bere­itschaft gewe­sen zu sein. Selb­st nachts habe die Tür zu ihrem Zim­mer offen­bleiben müssen, damit sie auf Rufen der zu betreuen­den Per­son dieser — etwa zum Gang auf die Toi­lette — Hil­fe habe leis­ten kön­nen. Für den Zeitraum Mai bis August 2015 und Okto­ber bis Dezem­ber 2015 hat die Klägerin zulet­zt die Zahlung von 42.636,00 Euro brut­to abzüglich erhal­tener 6.680,00 Euro net­to neb­st Prozesszin­sen begehrt. Die Beklagte hat Klage­ab­weisung beantragt und gemeint, sie schulde den geset­zlichen Min­dest­lohn nur für die arbeitsver­traglich vere­in­barten 30 Wochen­stun­den. In dieser Zeit hät­ten die der Klägerin obliegen­den Auf­gaben ohne Weit­eres erledigt wer­den kön­nen. Bere­itschafts­di­enst sei nicht vere­in­bart gewe­sen. Sollte die Klägerin tat­säch­lich mehr gear­beit­et haben, sei dies nicht auf Ver­an­las­sung der Beklagten erfolgt.

Das Lan­desar­beits­gericht hat der Klage über­wiegend entsprochen und ist im Wege ein­er Schätzung von ein­er Arbeit­szeit von 21 Stun­den kalen­dertäglich aus­ge­gan­gen. Hierge­gen richt­en sich die Revi­sion der Beklagten und die Anschlussre­vi­sion der Klägerin mit Erfolg. Das Beru­fungs­gericht hat im Aus­gangspunkt zutr­e­f­fend angenom­men, dass die Verpflich­tung zur Zahlung des geset­zlichen Min­dest­lohns nach § 20 iVm. § 1 MiLoG auch aus­ländis­che Arbeit­ge­ber trifft, wenn sie Arbeit­nehmer nach Deutsch­land entsenden. Hier­bei han­delt es sich um Ein­griff­s­nor­men iSv. Art. 9 Abs. 1 Rom I‑VO, die unab­hängig davon gel­ten, ob anson­sten auf das Arbeitsver­hält­nis deutsches oder aus­ländis­ches Recht Anwen­dung find­et. Die Revi­sion der Beklagten rügt jedoch mit Erfolg, das Beru­fungs­gericht habe ihren Vor­trag zum Umfang der geleis­teten Arbeit nicht aus­re­ichend gewürdigt und deshalb unzutr­e­f­fend angenom­men, die tägliche Arbeit­szeit der Klägerin habe unter Ein­schluss von Zeit­en des Bere­itschafts­di­en­stes 21 Stun­den betra­gen. Das Lan­desar­beits­gericht hat zwar zu Recht in den Blick genom­men, dass auf­grund des zwis­chen der Beklagten und der zu betreuen­den Per­son geschlosse­nen Dien­stleis­tungsver­trags eine 24-Stun­den-Betreu­ung durch die Klägerin vorge­se­hen war. Es hat jedoch rechts­fehler­haft bei der nach § 286 ZPO gebote­nen Würdi­gung des gesamten Parteivor­trags den Hin­weis der Beklagten auf die ver­traglich vere­in­barte Arbeit­szeit von 30 Stunden/Woche nicht berück­sichtigt, son­dern hierin ein rechtsmiss­bräuch­lich­es wider­sprüch­lich­es Ver­hal­ten gese­hen. Das führt zur Aufhe­bung des Beru­fung­surteils. Auch die Anschlussre­vi­sion der Klägerin ist begrün­det. Für die Annahme des Lan­desar­beits­gerichts, die Klägerin habe geschätzt täglich drei Stun­den Freizeit gehabt, fehlt es bis­lang an aus­re­ichen­den tat­säch­lichen Anhalt­spunk­ten, so dass auch aus diesem Grund das Urteil des Lan­desar­beits­gerichts aufzuheben ist. Die Sache war an das Beru­fungs­gericht zurück­zu­ver­weisen, um insoweit den Sachver­halt weit­er aufzuk­lären, den Vor­trag der Parteien umfassend zu würdi­gen und festzustellen, in welchem Umfang die Klägerin Vol­lar­beit oder Bere­itschafts­di­enst leis­ten musste und wie viele Stun­den Freizeit sie hat­te. Dass die Klägerin mehr als die im Arbeitsver­trag angegebe­nen 30 Stunden/Woche zu arbeit­en hat­te, dürfte — nach Akten­lage — nicht fern­liegend sein.

Weit­ere Infor­ma­tio­nen: https://juris.bundesarbeitsgericht.de/cgi-bin/r…