Bun­de­sar­beits­gericht, Beschluss vom 03.03.2022, AZ 8 AZR 208/21 (A)

Aus­gabe: 02–2022

Die Parteien stre­it­en über die Zahlung ein­er Entschädi­gung nach § 15 Abs. 2 AGG*.

Die Beklagte ist ein Assis­ten­z­di­enst. Sie bietet Men­schen mit Behin­derun­gen Beratung, Unter­stützung sowie Assis­ten­zleis­tun­gen in ver­schiede­nen Bere­ichen des Lebens (sog. Per­sön­liche Assis­tenz) an.

Assis­ten­zleis­tun­gen nach § 78 SGB IX wer­den für Men­schen mit Behin­derun­gen zur selb­st­bes­timmten und eigen­ständi­gen Bewäl­ti­gung des All­t­ags ein­schließlich der Tagesstruk­turierung erbracht. Sie umfassen ins­beson­dere Leis­tun­gen für die all­ge­meinen Erledi­gun­gen des All­t­ags wie die Haushalts­führung, die Gestal­tung sozialer Beziehun­gen, die per­sön­liche Leben­s­pla­nung, die Teil­habe am gemein­schaftlichen und kul­turellen Leben, die Freizeit­gestal­tung ein­schließlich sportlich­er Aktiv­itäten sowie die Sich­er­stel­lung der Wirk­samkeit der ärztlichen und ärztlich verord­neten Leis­tun­gen. Sie bein­hal­ten die Ver­ständi­gung mit der Umwelt in diesen Bere­ichen. Assis­ten­zleis­tun­gen, die oft von mehreren Per­so­n­en in Schicht­en, teil­weise rund um die Uhr, geleis­tet wer­den, kön­nen von einem Assis­tenz- oder Pflege­di­enst erbracht oder durch die leis­tungs­berechtigte assis­ten­znehmende Per­son – im sog. Arbeit­ge­ber­mod­ell – selb­st organ­isiert wer­den. Die Kosten wer­den in bei­den Fällen vom zuständi­gen öffentlich-rechtlichen Leis­tungs-/Kos­ten­träger getragen.
Ausweis­lich des von der Beklagten im Juli 2018 veröf­fentlicht­en Stel­lenange­bots suchte eine 28jährige Stu­dentin „weib­liche Assis­tentin­nen“ in allen Lebens­bere­ichen des All­t­ags, die „am besten zwis­chen 18 und 30 Jahre alt sein“ soll­ten. Die im März 1968 geborene Klägerin bewarb sich am 5. August 2018 ohne Erfolg auf diese Stellenausschreibung.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Beklagte auf Zahlung ein­er Entschädi­gung in Anspruch genom­men. Sie hat die Auf­fas­sung vertreten, die Beklagte habe sie im Bewer­bungsver­fahren ent­ge­gen den Vor­gaben des AGG wegen ihres Alters benachteiligt und sei ihr deshalb nach § 15 Abs. 2 AGG zur Zahlung ein­er Entschädi­gung verpflichtet. Die aus­drück­lich an Assis­tentin­nen im Alter „zwis­chen 18 und 30“ Jahren gerichtete Stel­lenauss­chrei­bung der Beklagten begründe die Ver­mu­tung, dass sie, die Klägerin bei der Stel­lenbe­set­zung wegen ihres – höheren – Alters nicht berück­sichtigt und damit wegen ihres Alters diskri­m­iniert wor­den sei. Die unter­schiedliche Behand­lung wegen des Alters sei bei Leis­tun­gen der Assis­tenz nach § 78 SGB IX unter keinem rechtlichen Gesicht­spunkt gerecht­fer­tigt. Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die Ungle­ich­be­hand­lung wegen des Alters sei nach dem AGG gerecht­fer­tigt. Bei der Beurteilung ein­er etwaigen Recht­fer­ti­gung seien nicht nur die Bes­tim­mungen des Übereinkom­mens der Vere­in­ten Natio­nen über die Rechte von Men­schen mit Behin­derun­gen (UN-BRK), son­dern auch zu berück­sichti­gen, dass die eine per­sön­liche Assis­tenz in Anspruch nehmenden Leis­tungs­berechtigten nach § 8 Abs. 1 SGB IX** ein Wun­sch- und Wahlrecht auch im Hin­blick auf das Alter der Assistenten/innen hät­ten. Nur so sei eine selb­st­bes­timmte Teil­habe von Men­schen mit Behin­derun­gen zu erreichen.

Das Arbeits­gericht hat der Klage teil­weise stattgegeben. Das Lan­desar­beits­gericht hat auf die Beru­fung der Beklagten die Klage voll­ständig abgewiesen. Mit ihrer Revi­sion ver­fol­gt die Klägerin ihr Begehren auf Zahlung ein­er Entschädi­gung weit­er. Die Beklagte begehrt die Zurück­weisung der Revision.

Da die Entschei­dung des Rechtsstre­its davon abhängt, ob die durch die Stel­lenauss­chrei­bung bewirk­te unmit­tel­bare Benachteili­gung wegen des Alters nach den Bes­tim­mungen des AGG gerecht­fer­tigt ist und sich im Hin­blick auf die Ausle­gung dieser Bes­tim­mungen in Übere­in­stim­mung mit den Vor­gaben der Richtlin­ie 2000/78/EG Fra­gen der Ausle­gung von Union­srecht stellen, ersucht der Achte Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts den Gericht­shof der Europäis­chen Union, die fol­gende Frage zu beantworten:

Kön­nen Art. 4 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 und/oder Art. 2 Abs. 5 der Richtlin­ie 2000/78/EG – im Licht der Vor­gaben der Char­ta der Grun­drechte der Europäis­chen Union (Char­ta) sowie im Licht von Art. 19 des Übereinkom­mens der Vere­in­ten Natio­nen über die Rechte von Men­schen mit Behin­derun­gen (UN-BRK) – dahin aus­gelegt wer­den, dass in ein­er Sit­u­a­tion wie der des Aus­gangsver­fahrens eine unmit­tel­bare Benachteili­gung wegen des Alters gerecht­fer­tigt wer­den kann?

Weit­ere Infor­ma­tio­nen: https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/pers…