(Stuttgart) Das ver­fas­sungsrechtlich gewährleis­tete Selb­st­bes­tim­mungsrecht von Reli­gions- und Weltan­schau­ungs­ge­mein­schaften kann nur von einem Vere­in in Anspruch genom­men wer­den, der ein hin­re­ichen­des Maß an religiös­er Sys­tem­bil­dung und Welt­deu­tung aufweist.  

Andern­falls ist es ihm ver­wehrt, mit seinen Mit­gliedern zu vere­in­baren, außer­halb eines Arbeitsver­hält­niss­es fremdbes­timmte, weisungs­ge­bun­dene Arbeit in per­sön­lich­er Abhängigkeit zu leis­ten, sofern diese nicht ähn­lich einem Arbeit­nehmer sozial geschützt sind. 

Darauf ver­weist der Stuttgarter Fachan­walt für Arbeit­srecht Michael Henn, Präsi­dent des VDAA — Ver­band deutsch­er Arbeit­srecht­sAn­wälte e. V. mit Sitz in Stuttgart, unter Hin­weis auf die Mit­teilung des Bun­de­sar­beits­gerichts (BAG) zu seinem Urteil vom 25. April 2023 – 9 AZR 253/22 –.

Der Beklagte ist ein gemein­nütziger Vere­in, dessen satzungsmäßiger Zweck „die Volks­bil­dung durch die Ver­bre­itung des Wis­sens, der Lehre, der Übun­gen und der Tech­niken des Yoga und ver­wandter Diszi­plinen sowie die Förderung der Reli­gion“ ist. Zur Ver­wirk­lichung sein­er Zwecke betreibt er Ein­rich­tun­gen, in denen Kurse, Work­shops, Sem­i­nare, Ver­anstal­tun­gen und Vorträge zu Yoga und ver­wandten Diszi­plinen durchge­führt wer­den. Dort beste­hen sog. Seva­ka-Gemein­schaften. Sevakas sind Vere­in­sange­hörige, die in der indis­chen Ashram- und Kloster­tra­di­tion zusam­men­leben und ihr Leben ganz der Übung und Ver­bre­itung der Yoga Vidya Lehre wid­men. Sie sind auf­grund ihrer Vere­ins­mit­glied­schaft verpflichtet, nach Weisung ihrer Vorge­set­zten Sevazeit zu leis­ten. Gegen­stand der Seva­di­en­ste sind zB Tätigkeit­en in Küche, Haushalt, Garten, Gebäude­un­ter­hal­tung, Wer­bung, Buch­hal­tung, Bou­tique etc. sowie die Durch­führung von Yogaun­ter­richt und die Leitung von Sem­i­naren. Als Leis­tung zur Daseins­für­sorge stellt der Beklagte den Sevakas Unterkun­ft und Verpfle­gung zur Ver­fü­gung und zahlt ein monatlich­es Taschen­geld iHv. bis zu 390,00 Euro, bei Führungsver­ant­wor­tung bis zu 180,00 Euro zusät­zlich. Sevakas sind geset­zlich kranken‑, arbeitslosen‑, renten- und pflegev­er­sichert und erhal­ten eine zusät­zliche Altersversorgung.

Die Klägerin ist Volljuristin. Sie lebte vom 1. März 2012 bis zur Beendi­gung ihrer Mit­glied­schaft beim Beklagten am 30. Juni 2020 als Seva­ka in dessen Yoga-Ashram und leis­tete dort im Rah­men ihrer Sevazeit ver­schiedene Arbeit­en. Die Klägerin hat gel­tend gemacht, zwis­chen den Parteien habe ein Arbeitsver­hält­nis bestanden, und ver­langt ab dem 1. Jan­u­ar 2017 auf der Grund­lage der ver­traglichen Rege­lar­beit­szeit von 42 Wochen­stun­den geset­zlichen Min­dest­lohn iHv. 46.118,54 Euro brutto.

Der Beklagte hat eingewen­det, die Klägerin habe gemein­nützige Seva­di­en­ste als Mit­glied ein­er hin­duis­tis­chen Ashramge­mein­schaft und nicht in einem Arbeitsver­hält­nis geleis­tet. Die Reli­gions­frei­heit nach Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG und das Selb­st­bes­tim­mungsrecht aus Art. 140 GG iVm. Art. 137 WRV ermöglicht­en es, eine geistliche Lebens­ge­mein­schaft zu schaf­fen, in der die Mit­glieder außer­halb eines Arbeitsver­hält­niss­es gemein­nützi­gen Dienst an der Gesellschaft leisteten.

Das Arbeits­gericht hat – soweit für die Revi­sion von Bedeu­tung – der Klage stattgegeben. Das Lan­desar­beits­gericht hat die Klage auf die Beru­fung des Beklagten abgewiesen. Die Revi­sion der Klägerin hat­te vor dem Neun­ten Sen­at des Bun­de­sar­beits­gerichts Erfolg.

Die Klägerin war Arbeit­nehmerin des Beklagten und hat für den stre­it­ge­gen­ständlichen Zeitraum Anspruch auf den geset­zlichen Min­dest­lohn nach § 1 Abs. 1 iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG. Sie war ver­traglich zu Seva­di­en­sten und damit iSv. § 611a Abs. 1 BGB zur Leis­tung weisungs­ge­bun­den­er, fremdbes­timmter Arbeit in per­sön­lich­er Abhängigkeit verpflichtet. Der Arbeit­nehmereigen­schaft ste­hen wed­er die beson­deren Gestal­tungsrechte von Reli­gions- und Weltan­schau­ungs­ge­mein­schaften noch die Vere­in­sau­tonomie des Art. 9 Abs. 1 GG entgegen.

Der Beklagte ist wed­er Reli­gions- noch Weltan­schau­ungs­ge­mein­schaft. Es fehlt das erforder­liche Min­dest­maß an Sys­tem­bil­dung und Welt­deu­tung. Der Beklagte bezieht sich in sein­er Satzung ua. auf Weisheit­slehren, Philoso­phien und Prak­tiken aus Indi­en und anderen östlichen und west­lichen Kul­turen sowie auf spir­ituelle Prak­tiken aus Bud­dhis­mus, Hin­duis­mus, Chris­ten­tum, Tao­is­mus und anderen Wel­tre­li­gio­nen. Auf­grund dieses weit gefassten Spek­trums ist ein sys­temis­ches Gesamt­ge­füge religiös­er bzw. weltan­schaulich­er Ele­mente und deren inner­er Zusam­men­hang mit der Yoga Vidya Lehre nicht hin­re­ichend erkennbar.

Auch die grundge­set­zlich geschützte Vere­in­sau­tonomie (Art. 9 Abs. 1 GG) erlaubt die Erbringung fremdbes­timmter, weisungs­ge­bun­den­er Arbeit­sleis­tung in per­sön­lich­er Abhängigkeit außer­halb eines Arbeitsver­hält­niss­es allen­falls dann, wenn zwin­gende arbeit­srechtliche Schutzbes­tim­mungen nicht umgan­gen wer­den. Zu diesen zählt ua. eine Vergü­tungszusage, die den all­ge­meinen geset­zlichen Min­dest­lohn garantiert, auf den Kost und Logis nicht anzurech­nen sind. Denn dieser bezweckt die Exis­ten­zsicherung durch Arbeit­seinkom­men als Aus­druck der Men­schen­würde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG).

Der Neunte Sen­at kon­nte auf der Grund­lage der getrof­fe­nen Fest­stel­lun­gen nicht abschließend über die Höhe des Min­dest­lohnanspruchs der Klägerin entschei­den und hat den Rechtsstre­it deshalb an das Lan­dear­beits­gericht zurückverwiesen.

Henn emp­fahl, die Entschei­dung zu beacht­en und in Zweifels­fällen rechtlichen Rat einzu­holen, wobei er u. a. dazu auch auf den VDAA-Ver­band deutsch­er Arbeit­srecht­sAn­wälte e. V. – www.vdaa.de – ver­wies.

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