(Stuttgart) Das in § 17 Abs. 1 KSchG für die Ermit­tlung der erforder­lichen per­son­ellen Betrieb­sstärke maßge­bliche Tatbe­standsmerk­mal „in der Regel“ enthält wed­er eine Stich­tagsregelung noch ver­langt es eine Durch­schnitts­be­tra­ch­tung.  

Es stellt vielmehr auf die Anzahl der beschäftigten Arbeit­nehmer ab, die für den gewöhn­lichen Ablauf des betr­e­f­fend­en Betriebs kennze­ich­nend ist. Hierzu bedarf es eines Rück­blicks auf den bish­eri­gen Per­son­albe­stand und gegebe­nen­falls – sofern keine Betrieb­sstil­l­le­gung erfol­gt – ein­er Ein­schätzung der zukün­fti­gen Entwick­lung. Zeit­en eines außergewöhn­lich hohen oder niedri­gen Geschäfts­gangs sind nicht zu berück­sichti­gen. Das ist durch die Recht­sprechung des Gericht­shofs der Europäis­chen Union bere­its gek­lärt. Hat ein Arbeit­ge­ber die Betrieb­s­größe falsch beurteilt und deshalb keine Masse­nent­las­sungsanzeige erstat­tet, ist jedoch derzeit unklar, ob dies – wie vom Bun­de­sar­beits­gericht in ständi­ger Recht­sprechung seit 2012 angenom­men – weit­er­hin zur Unwirk­samkeit der Kündi­gung führt.

Das vom Bun­de­sar­beits­gericht entwick­elte Sank­tion­ssys­tem ste­ht möglicher­weise nicht im Ein­klang mit der Sys­tem­atik des Masse­nent­las­sungss­chutzes, wie er durch die Masse­nent­las­sungsrichtlin­ie (MERL) ver­mit­telt wird, und kön­nte darum unver­hält­nis­mäßig sein. Der Sech­ste Sen­at hat daher das Ver­fahren bis zur Entschei­dung des Gericht­shofs in der Rechtssache – C‑134/22 – (Vor­abentschei­dungser­suchen des Sech­sten Sen­ats vom 27. Jan­u­ar 2022 – 6 AZR 155/21 (A) -; Pressemit­teilung 4/22) aus­ge­set­zt. 

Darauf ver­weist der Stuttgarter Fachan­walt für Arbeit­srecht Michael Henn, Präsi­dent des VDAA — Ver­band deutsch­er Arbeit­srecht­sAn­wälte e. V. mit Sitz in Stuttgart, unter Hin­weis auf die Mit­teilung des Bun­de­sar­beits­gerichts (BAG) zu seinem Beschluss vom 11. Mai 2023 – 6 AZR 157/22 (A) –.

Der Kläger war bei einem Großhan­dels- und Wartung­sun­ternehmen tätig, das bis Sep­tem­ber 2020 25 Arbeit­nehmer beschäftigte. Ein Betrieb­srat war nicht gebildet. Nach Eröff­nung des Insol­ven­zver­fahrens am 1. Dezem­ber 2020 legte der zum Insol­ven­zver­wal­ter bestellte Beklagte den Betrieb still und kündigte inner­halb von 30 Tagen min­destens 10 Arbeit­nehmern, darunter dem Kläger, ohne zuvor eine Masse­nent­las­sungsanzeige nach § 17 Abs. 1 KSchG erstat­tet zu haben. Er hat die Auf­fas­sung vertreten, ein­er entsprechen­den Anzeige habe es nicht bedurft. Das Tatbe­standsmerk­mal „in der Regel“ stelle auf den Zeit­punkt der Ent­las­sung und damit auf einen Stich­tag ab. Die Recht­sprechung des Bun­de­sar­beits­gerichts zur Ermit­tlung der per­son­ellen Betrieb­sstärke sei union­srechtswidrig. Zum maßge­blichen Stich­tag seien bei der Schuld­ner­in auf­grund von Aufhe­bungsverträ­gen und Eigenkündi­gun­gen weniger als 21 Arbeit­nehmer beschäftigt gewe­sen. Das Lan­desar­beits­gericht hat die Kündi­gung auf­grund der fehlen­den Masse­nent­las­sungsanzeige für unwirk­sam gehal­ten und der Kündi­gungss­chutzk­lage stattgegeben.

Die nach § 17 Abs. 1 KSchG maßge­bliche Betrieb­s­größe war auch im Zeit­punkt der vom Beklagten erk­lärten Kündi­gun­gen noch erre­icht. Dieser hätte daher eine Masse­nent­las­sungsanzeige erstat­ten müssen. Vor dem Hin­ter­grund der Erwä­gun­gen des Gen­er­alan­walts in seinen am 30. März 2023 in der Rechtssache – C‑134/22 – verkün­de­ten Schlus­santrä­gen zum Ver­hält­nis von Anzeige- und Kon­sul­ta­tionsver­fahren zueinan­der hat der Sech­ste Sen­at nach Anhörung der Parteien den vor­liegen­den Rechtsstre­it jedoch bis zur Entschei­dung des Gericht­shofs über das Vor­abentschei­dungser­suchen in entsprechen­der Anwen­dung des § 148 ZPO aus­ge­set­zt, um auf der rechtlichen Grund­lage der zu erwartenden Entschei­dung die Sank­tio­nen bei Ver­stößen des Arbeit­ge­bers gegen seine Verpflich­tun­gen aus § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG bes­tim­men zu können.

Henn emp­fahl, die Entschei­dung zu beacht­en und in Zweifels­fällen rechtlichen Rat einzu­holen, wobei er u. a. dazu auch auf den VDAA-Ver­band deutsch­er Arbeit­srecht­sAn­wälte e. V. – www.vdaa.de – ver­wies.

Für Rück­fra­gen ste­ht Ihnen zur Verfügung:

Michael Henn
Rechtsanwalt
Fachan­walt für Erbrecht
Fachan­walt für Arbeitsrecht
VDAA – Präsident

Recht­san­wälte Dr. Gaupp & Coll
Gerokstr. 8
70188 Stuttgart

Tel.: 0711/30 58 93–0
Fax: 0711/30 58 93–11
stuttgart@drgaupp.de
www.drgaupp.de