Bundesarbeitsgericht trifft weitreichende Entscheidung

(Stuttgart) Arbeitgeber in Deutschland sind verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter zu erfassen. Diese Pflicht folgt unmittelbar aus dem Arbeitsschutzgesetz. Dies betont das Bundesarbeitsgericht in einer aktuellen Entscheidung, die weitreichende Folgen für alle Beschäftigten in Deutschland haben dürfte. 

Die Rechtslage stellt der Hamburger Fachanwalt für Arbeitsrecht Prof. Dr. Michael Fuhlrott dar. 

Ausgangsfall: Streit um Beteiligungsrechte des Betriebsrats

Dem gerichtlichen Ausgangsfall lag eine Streitigkeit zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber einer vollstationären Wohneinrichtung zugrunde. Nachdem der Arbeitgeber dort zunächst eine Zeiterfassung einführen wollte und mit dem Betriebsrat darüber verhandelte, brach der Arbeitgeber später die Verhandlungen ab. Damit war der Betriebsrat aber nicht einverstanden: Er beharrte auf der Einführung einer Zeiterfassung und wollte diese – nun auch gegen den Willen des Arbeitgebers – durchsetzen.

In rechtlicher Hinsicht ging es dabei um die Reichweite der Beteiligungsrechte des Betriebsrats. Denn das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) Betriebsräte haben ein abgestuftes System der Mitbestimmung. Danach dürfen diese u.a. bei der Einführung technischer Überwachungseinrichtungen wie der Einführung einer Zeiterfassung deren konkrete Ausgestaltung mitbestimmen (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG)

Mitbestimmung bei der Arbeitszeiterfassung? 

„Das ein System zur Arbeitszeiterfassung eine technische Überwachungseinrichtung darstellt, liegt auf der Hand. Denn damit kann der Arbeitgeber ohne weiteres nachhalten, wann und wie lange ein Arbeitnehmer gearbeitet hat“, so Arbeitsrechtler Prof. Dr. Michael Fuhlrott.

Daher ist im Grundsatz auch gar nicht umstritten, dass die Einführung eines solchen Systems der Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegt. Allerdings stand nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahr 1989 (Beschl. v. 28.11.1989, Az.: 1 ABR 97/88) bislang fest, dass der Betriebsrat nur bei der Ausgestaltung eines solchen Systems mitbestimmen darf. „Damit war kein Recht des Betriebsrats verbunden, initiativ die Einführung eines solchen Systems fordern zu können“, fasst Arbeitsrechtler Fuhlrott die bisherige Rechtsprechung zusammen. Ein solches Initiativrecht forderte der Betriebsrat aber vorliegend ein.

Bundesarbeitsgericht: Betriebsrat hat Initiativrecht

Das Bundesarbeitsgericht bewertete die Rechtslage in seiner heutigen Entscheidung (Beschl. v. 13.09.2022, Az.: 1 ABR 22/21 = PM Nr. 35/22) ganz anders:

Ein Recht zur Mitbestimmung des Betriebsrats bestehe nur dann, wenn es keine gesetzliche Regelung zur Arbeitszeiterfassung gebe. Eine solche sei aber bereits in Deutschland vorhanden. Denn § 3 Arbeitsschutzgesetz verlange, dass Arbeitgeber notwendige Organisationsmaßnahmen träfen, um die Gesundheit ihrer Beschäftigten sicherzustellen.

Darunter falle auch die Arbeitszeiterfassung. Sprich: Unternehmen sind nach dem BAG bereits nach geltendem Recht verpflichtet, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu erfassen. Und: Dies gilt unabhängig davon, ob im Betrieb ein Betriebsrat gebildet ist oder nicht.

Dazu berief sich das BAG auch auf das sog. Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2019 (v. 14.5.2019, Az.: C-55/18). Mit dieser Entscheidung hatte der EuGH entschieden, dass das europäische Arbeitszeitrecht es verlange, ein System zur objektiven Arbeitszeiterfassung einzuführen. Eine Umsetzung dieser Entscheidung durch den deutschen Gesetzgeber in nationales Recht war aber bislang nicht erfolgt.

Arbeitszeiterfassung: Für jeden Arbeitnehmer in Deutschland? 

„Die heutige Entscheidung stärkt die Rechte von Beschäftigten massiv“, so Arbeitsrechtler Fuhlrott. „Für Unternehmen hat die heutige Entscheidung weitreichende Folgen“, so Michael Fuhlrott, der den heutigen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts als die wichtigste arbeitsrechtliche Entscheidung des gesamten Jahres einstuft. „Wie die Vorgaben der höchsten deutschen Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter zur Zeiterfassung im Einzelnen aussehen, ist der bislang nur als Pressemitteilung vorliegenden Entscheidung nicht zu entnehmen“, so Fuhlrott.

Für Fuhlrott ist aber klar: „Mit der Entscheidung überholt das Bundesarbeitsgericht auch den Gesetzgeber, der bislang noch keine gesetzliche Regelung zur Umsetzung der europäischen Vorgaben geschaffen hat. Es ist davon auszugehen, dass die heutige Entscheidung auch neuen Schwung in das Gesetzgebungsverfahren bringen wird. Der Gesetzgeber ist durch die heutige Entscheidung in großen Zugzwang geraten“, so der Arbeitsrechtler.

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